Was ist Leiden?

Erleuchtung wird manchmal als die Befreiung vom Leiden beschrieben.

Es gibt einen Unterschied zwischen Schmerz und Leiden. Schmerz ist ein Teil des Lebens. Die Schmerzen, die du fühlst, wenn du dich verletzt, der Schmerz, den du beim Verlust eines geliebten Menschen erlebst – diese Arten von Schmerz bilden einen natürlichen, sogar notwendigen und unvermeidlichen Teil des Lebens.

Leiden dagegen ist der Schmerz, den du selbst erzeugst – durch Widerstand gegen die Wirklichkeit. Wenn du zum Beispiel glaubst, du solltest nicht krank sein, dass es unfair ist oder dass es nicht so lange dauern sollte, leidest du unter deinen Gedanken. Als ‚Leiden‘ wird also der Schmerz bezeichnet, der durch Gedanken verursacht wird, die du als wahr annimmst.

Ein großer Teil der Gedanken, die Leiden verursachen, ergibt sich aus dem Missverständnis, dass du ein unabhängiger, getrennter Teil der Realität seist. Diese falsche Vorstellung führt auf subtile Art dazu, dass du die Welt nicht mehr so siehst und erfährst, wie sie ist. Deine Kenntnisse, Erfahrungen, Meinungen und Konzepte sind zu etwas erstarrt und verkrustet, was du als deine eigene Identität erfährst: Sie bilden die Person, die du zu sein glaubst, sie bilden das Bild, das du von dir selbst hast und das du deiner Umgebung am liebsten zeigst. Diese Identität muss gepflegt, überwacht und beschützt werden. Du musst dich ständig daran erinnern, dass dieses Bild den Erwartungen der anderen entspricht oder dass du dem Bild entsprichst, das andere von dir haben. Du musst dafür alle möglichen Erwartungen erfüllen und kannst diese Form der ‚persönlichen Markenführung‘ wahrscheinlich nur dann durchziehen, wenn du dir in vielen Situationen vormachst, anders zu sein, als du bist, und wenn du Gefühle, Gedanken und Erfahrungen wegschiebst. Tief im Innern weißt du aber nur zu gut, dass du ‚unecht‘ bist. Es ist kein Zufall, dass Kurse, die ‚Authentizität‘ versprechen, reißenden Absatz finden.

Wird die Illusion, eine separate Person zu sein, wirklich durchschaut und befreist du dich von allen Konzepten und ‚Wahrheiten‘, auf die du dein Leben aufgebaut hast, dann wird der Raum geschaffen, zu erfahren und zu realisieren, was du wirklich bist – ein Umschwung, der oft als Selbstverwirklichung oder Erwachen bezeichnet wird.

Sowohl das sich Verlieren in der Illusion als auch Selbstbefreiung, zu der du fähig bist, sind ganz natürliche Prozesse. Dass du als Kind allmählich deine eigene Identität und sogenannte Persönlichkeit erschaffen hast, ist ein natürlicher und notwendiger Schritt, um als Mensch mit und unter Menschen zu ‚funktionieren‘. Dass du dadurch längere Zeit den Blick dafür verlierst, dass du viel mehr bist als nur diese ‚Identität‘, ist eine logische Konsequenz. Wie könnte es anders sein? Du bist ja in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der fast jeder seine wahre Natur aus den Augen verloren hat. Du übernimmst, was jeder um dich herum tut, und du hältst es für normal: Wenn du das Gefühl hast, dass dir etwas fehlt, gehst du im Außen auf die Suche nach äußeren Reizen wie Nahrung, Karriere, Wissen, Information und so weiter. Aber eines Tages wirst du feststellen, dass das, was du suchst, nicht im Außen zu finden ist, und dass du einfach eine Art von Ersatz für eine Essenz gesucht hast, die dir zu fehlen scheint.

Allerdings ist diese Essenz nie wirklich verschwunden. Das wäre unmöglich. Wie könnte das, was du wirklich bist, jemals verschwinden? Das Einzige, was geschehen ist, ist, dass du dich als Person für echt und für das Ganze gehalten hast. Aber irgendwo, tief im Innern, weißt du es besser. Und aus diesem Besser-Wissen heraus gibt es ein kontinuierliches unterschwelliges und eindringliches Gefühl der Unzufriedenheit, das dazu geführt hat, dass du auf der Suche geblieben bist. Das Gefühl wird zwar meist als störend empfunden, ist aber letztlich ein kostbares Geschenk: Es stellt deinen Kompass dar, mit dem du deinen Weg zurück zu dem finden kannst, was du wirklich bist. Den Weg zurück zur Wirklichkeit – mitten ins Leben und jenseits des Leidens.